02.11.22

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Auf die Zukunft setzen!

Es gilt „jetzt oder nie“ zu handeln, wenn wir Menschen eine Chance haben wollen, auf dem Planeten Erde zu überleben. Ab 2025 müssen die Klimagasemissionen sinken, sonst wird aus der Klimakrise eine Klimakatastrophe – das ist die verzweifelte Warnung des Anfang April veröffentlichten UN-Klimaberichts. In der Landwirtschaft bedarf es keiner Warnung mehr, bei jedem Gang über ein Feld oder eine Obstbaumwiese sehen Landwirte die Folgen der Klimaveränderung überdeutlich. Im März stiegen die Temperaturen am Albtrauf tagelang auf über 20°C, dann kamen ein Frosteinbruch und 20 cm Neuschnee. Die Sommer sind inzwischen so heiß, dass Kirschen am Baum regelrecht gekocht werden. Wenn es regnet, dann meist zur falschen Zeit. Im Frühsommer, wenn die Bäume dringend Wasser brauchen, um die heranwachsenden Früchte ausreichend zu versorgen, herrscht inzwischen oft Dürre. Im April mag das Thermometer auf -10°C sinken, aber die Winter sind oft verregnet und zu warm. Gerade Obstbäumen fehlt das Kältesignal, sich in die Winterruhe zu begeben. Solche Unwägbarkeiten des Wetters lassen sich nicht durch Technik ausgleichen. Auf manchen Weingütern und Obstanlagen in den USA werden gelegentlich bei späten Frosteinbrüchen große Ventilatoren eingesetzt, die genug Warmluft produzieren, um das Erfrieren der Blüte zu verhindern, aber eine Lösung ist das nicht.

GENETISCHE WEISHEIT
Ganz gleich ob bei Menschen, Tieren oder Pflanze – die Informationen, die auf Genen gespeichert sind, lassen sich vielleicht am besten mit einer riesigen Bibliothek vergleichen: Ein Teil der Bücher wird beinahe täglich gebraucht, andere hingegen stehen jahrzehntelang ungenutzt im Regal, weil niemand nach ihnen fragt. Pflanzen haben in ihrer Entwicklungsgeschichte Wärmeperioden und Eiszeiten überstanden, Fluten und Dürreperioden. Diese Erfahrungen sind als genetischer Code vielfach vorhanden, und wenn Pflanzenzüchter durch Kreuzungen versuchen, klimaresiliente Sorten zu entwickeln, dann versuchen sie dieses in den Pflanzen schlummernde genetische Potential zu erschließen. Das ist ein Grund, warum alte Sorten bei Gemüse, Getreide, und Obstbäumen so wichtig sind: Sie sind ein lebender Genpool, den wir jetzt dringend brauchen, wenn es darum geht, Pflanzen zu züchten, die dem Klimawandel – im Sinne des Wortes – gewachsen sind.

Die Neuzüchtung einer Gemüseart dauert etwa zehn Jahre. Die Zucht eines neuen Apfel- oder Birnbaums hingegen dauert viele Jahrzehnte. Es ist die Arbeit einer Generation, die hoffentlich der nachfolgenden zugute kommt.

AMBITIONIERTE ZIELE
Wir haben die „Stiftung zur Förderung und Erhaltung alter Obstsorten“ gegründet, um diese Arbeit anzugehen. Im Vergleich zu Gemüse und Getreide ist Obstbaumzucht eher selten und wenn sich überhaupt Züchter damit befassen, dann geht es meist um Tafelobst, für das es bessere Preise und Absatzchancen gibt – an der Entwicklung neuer Mostbirnensorten gibt es kein Interesse. Die Stiftung hat ein doppelt ambitioniertes Ziel: Es geht um die Zucht neuer Mostbirnen auf Hochstämmen.

Die Birne hatte in Baden-Württemberg von alters her eine besondere Rolle, da sie für die Herstellung des wichtigsten Getränks zu diesen Zeiten, dem Most, die notwendigen Früchte lieferte – pro Baum mehr als bei Äpfeln, für die Besitzer kleiner und kleinster Stückle ein wichtiger Faktor. Um 1900 war in vielen Gemeinden der Anteil von Birnen in den Streuobstwiesen höher als der von Äpfeln. Dies ändert sich noch vor dem Zweiten Weltkrieg, ab dieser Zeit nahm der Apfel deutlich zu. Im Jahr 2015 betrug der Birnenanteil nur noch 20-25 %. Auffallend ist jedoch der hohe Anteil von alten Bäumen, denn in den letzten 40 Jahren wurden nur noch wenige Birnbäume gepflanzt.

Mostbirnen haben im Streuobstbau eine besondere Bedeutung, weil die Bäume sehr groß und auch sehr alt werden. Birnen sind im wahrsten Sinn des Wortes landschaftsprägend. Während Apfelbäume 80 bis höchstens 100 Jahre alt werden, können Birnbäume das doppelte Alter erreichen. Diese alten Birnbäume bieten vielen Tieren Unterschlupf. Birnbäume sind auch insofern interessant, als sie früher als der Apfel blühen, sie haben deshalb Bedeutung für viele Insekten. Gleichzeitig sind sie aber wegen der frühen Blüte auch stärker durch Spätfröste gefährdet.

Der Zustand der Mostbirnenbestände in Baden-Württemberg ist inzwischen aus verschiedenen Gründen in einem katastrophalen Zustand. Die klimatischen Veränderungen sind ein relativ neuer Stressfaktor und ein Grund dafür, dass Krankheiten wie Birnenverfall immer häufiger zu beobachten sind.

STRESS MACHT AUCH BIRNBÄUME KRANK
Innerhalb der einzelnen Sorten gibt es aber deutliche Unterschiede im Befall. Besonders stark ist dieser bei der beliebten und am meisten vorkommenden „Schweizer Wasserbirne“, und leider auch bei der bekannten und für die Verarbeitung sehr wichtigen „Champagner Bratbirne“. Deutlich weniger befallen sind z. B. die „Karcherbirne“, die „Bayerische Weinbirne“ und die „Paulsbirne“. Die Stiftung hat einen Versuch gestartet, aus diesem Genpool neue klimaresiliente Sorten zu züchten, ein Projekt mit einem Zeithorizont von 25 Jahren. (Informationen darüber wie weit das Projekt bereits gediehen ist, finden Sie in der Genusszeit Ausgabe Nr. 9 Herbst/Winter 2021). Wegen des Anbaus auf stark wachsenden Unterlagen/Hochstämmen sind erste Erträge erst nach fünf bis acht Jahren zu sehen. Zudem ist Kernobst nicht sortentreu, d. h. auch bei Kreuzungen ist das Ergebnis kaum vorhersehbar.

STÜCKLE GESUCHT UND GEFUNDEN
Um die Qualität einer Kreuzung beurteilen zu können, müssen die Setzlinge zu Bäumen heranwachsen und Früchte tragen. Dafür bedarf es einer geeigneten Fläche und danach suchten wir im vergangenen Jahr über den „WiesenObst e. V.“. Ein Mitglied, mit über 80 Jahren noch sehr aktiv bei der Pflege seiner Bäume, hat der Stiftung gleich mehrere Flächen zum Kauf angeboten. Damit können nun alle Sämlinge aus den gezielten Kreuzungen vom Jahr 2021 in der direkten Nähe von Schlat gepflanzt und auf ihre (auch lokale) Eignung getestet werden. Unter den Flächen ist auch eine Wiese im Wald, wo unter dem Motto „Wald&WiesenObst“ großflächig Samen aus dem Trester ausgesät werden: die klassische Methode der Sortensuche des amerikanischen Obstpflanz-Pioniers Johnny Appleseed – und bereits vor ihm die von Johann Caspar Schiller (1795): „Bloße Liebhaberei führte den Verfasser vor ein und zwanzig Jahren zu einem kleinen Versuch in der Baumzucht. Aus einer Ansaat von Obstkernen auf einem Flecke von etwa zweyhundert Quadratfuß erhielt er über vier tausend Pflanzen“.

Moderne Züchtungen sind fast immer ausschließlich auf Eigenschaften ausgerichtet, die kommerziell wichtig sind, beispielsweise höhere Erträge, Fruchtgröße oder lange Lagerfähigkeit. Bäume auf niedrigen Stämmen können zudem eng gepflanzt werden. „WiesenObst“- Bäume hingegen wachsen auf starken Unterlagen und entwickeln ein breites und weit in die Tiefe reichendes Wurzelwerk. Die Äpfel und Birnen dieser alten Sorten zeichnen sich durch einen höheren Gehalt an Gerbstoffen, Antioxidantien und Mineralstoffen aus. Diese Mikronährstoffe sind Teil der Immunabwehr der Bäume. Ernährungswissenschaftler gehen davon aus, dass die Antioxidantien, die wir beim Verzehr vor allem von Früchten mit aufnehmen, auch unser Immunsystem stärken. Noch gibt es nicht genügend Studien, die diesen Zusammenhang eindeutig nachweisen. Wir arbeiten deshalb in einem Forschungsprojekt mit der Hochschule „Geisenheim University“ zusammen. Nachfolgende Generationen werden nicht nur klimaresiliente Sorten brauchen, sondern auch Früchte, die sie wirklich nähren.