05.11.22

Der Blick in den Untergrund und neue Perspektiven
Wer an einem klaren Tag den steilen Hang oberhalb der Manufaktur Geiger in Schlat erklimmt, kann nicht nur den Blick auf die Kaiserberge genießen, sondern auch die gewaltigen Dimensionen der oft hundert Jahre alten Birnbaumriesen wirklich erfassen. Im Gegensatz zu modernen Tafelobstplantagen, in denen Bäume auf niedrigen Unterlagen dicht an dicht stehen und der Anbau ohne Einsatz von chemischem Dünger und Pestiziden nicht denkbar ist, scheint die Welt der „WiesenObst“-Bäume noch in Ordnung. Doch wer wie Jörg Geiger regelmäßig und zu jeder Jahreszeit die Obstwiesen begeht, der sieht, wenn Bäume Zeichen von Stress zeigen. Ursache sind nicht nur die heißeren, trockeneren Sommer, sondern auch die wärmeren Winter. Kälte im Winter bedeutet für die meisten Bäume, dass sie ihren Stoffwechsel reduzieren und sich in eine Ruhephase begeben. „Wenn sie die nicht bekommen, dann sind sie im Frühjahr grumpfig‘‘, erklärte mir vor ein paar Jahren der kalifornische Pfirsichanbauer Mas Masumoto. Seine „Sun Crest-Pfirsiche“ gelten weiterhin als Symbol für den Beginn der „Farm to Table“-Bewegung: Alice Waters, Starköchin und Gründerin von „Chez Panisse“ in Berkeley, setzte 1991 eine frische, reife, ganze Frucht auf die Dessertkarte, gefolgt vom Namen des Mannes, der sie am Morgen geerntet hatte: Mas Masumoto.
Auch Jörg Geiger widmet inzwischen dem unterirdischen Teil der Obstwiesen,
den Wurzeln, Mykhorrizen und Bodenlebewesen, mindestens genauso viel Aufmerksamkeit wie dem sichtbaren Teil der Birnbaumriesen, den alten Sämlingsapfelsorten und der Vielfalt der Kräuter, Gräser und Sträucher, die dazwischen
wachsen. Während manche Arten schon immer Teil der „WiesenObst“-Landschaft waren, hat er andere bewusst gesetzt – zur Bodenverbesserung und damit zur Stressprävention.
„Niemand ist eine Insel.“ Dieser Satz des britischen Dichters John Donne gilt
auch für Pflanzen: Sie wachsen in Abhängigkeit von und im Austausch mit
anderen Pflanzen, sie kommunizieren über Wurzeln und Mykhorrizennetzwerke, sie sind angewiesen auf das Fressen und Gefressenwerden, das Leben
und Sterben von Insekten, Würmern
und Mikroorganismen. Regenerative
Landwirte und Obstanbauer sehen inzwischen ihre Aufgabe vorrangig nicht
mehr darin, möglichst viel Obst, Gemüse oder Getreide zu produzieren. Ziel
ist stattdessen das möglichst optimale
Funktionieren des Ökosystems. Zu den
Maßnahmen gehört es, ein gutes Umfeld für nützliche Insekten zu schaffen,
Bodenlebewesen mit Nahrung zu versorgen – von Mist bis Mulche – und die
unterirdische Welt mit ihren Wurmgängen, Pilznetzwerken und Krume
möglichst wenig zu stören.
Bodenwissenschaftler haben in den
letzten Jahrzehnten große Fortschritte
gemacht - und dennoch wissen wir,
dass bislang erst rund ein Prozent aller
Bodenorganismen identifiziert wurde.
Mindestens so wichtig wie Elektronenmikroskope und Laboranalysen sind die
Beobachtungen und sensorischen Erfahrungen von Landwirten und Obstbauern: Wie fühlen sich die Blätter an? Wie steht es um die Bodenkrume? Feldforschung – im Sinne des Wortes – hat
inzwischen zu einem wesentlich besseren Verständnis von Ökosystemen und
den Kreisläufen von Wasser, Kohlenstoff und Stickstoff geführt.
Als eines der wichtigsten Messinstrumente hat sich der Refraktometer erwiesen.
Damit lässt sich der Zuckergehalt – in der Maßeinheit Brix - einer Flüssigkeit bestimmen. Für Weinanbauer und Imker gehört ein Refraktometer von jeher zum
Handwerkszeug. Inzwischen nutzen ihn
aber auch regenerative Landwirte, um
den Zuckergehalt im Blattsaft eines
Obstbaums oder einer Gemüsepflanze zu messen. Pflanzen stellen mittels
Photosynthese einfache und komplexe
Zucker her, ein Teil davon dient als Baustein für die Produktion von Proteinen,
Amino- und Fettsäuren, ein anderer
Teil wird in die Wurzeln transportiert
und dort als Währung im Tausch gegen
Mineralien und Spurenelemente eingesetzt, die für den Stoffwechsel der
Pflanze, z.B. die Herstellung von Fettsäuren nötig sind. Partner bei diesem
Tauschhandel sind Mykhorrizen und
Bodenorganismen, denn oft sind die
von der Pflanze benötigten Spurenelemente im Boden zwar vorhanden, aber
nicht in einer Form, die die Wurzeln aufnehmen können. Sie müssen erst von
Bodenorganismen vorverdaut werden.
Pflanzen sind auf Bodenorganismen
und Mykhorrizen angewiesen wie wir
Menschen auf das Mikrobiom in unserem Darm. Jeder der schon einmal
Antibiotika einnehmen musste, weiß
was passiert, wenn ein solches Medikament nicht nur die
krankheitserregenden Bakterien abtötet, sondern eben
auch die für die Verdauung notwendigen, guten Bakterien.
Aber zurück zum Zucker. Ein höherer Brixgehalt im Blattsaft ist ein Hinweis darauf, dass der Stoffwechsel der
Pflanze gut funktioniert: sie kann genug Zucker produzieren, um alle Mikronährstoffe einzutauschen und ausreichend Proteine, Lipide und sekundäre Pflanzenstoffe zu
bilden. Zu letzteren gehören auch Flavonoide: Sie verleihen Früchten ihre Farbe, tragen zum Geschmack bei, sie
können bitter sein und beißenden und saugenden Insekten
den Appetit verderben, sie sind Teil des Kommunikationssystems – volatile Stoffe, die bei Krankheits- oder Schädlingsbefall freigesetzt werden, nützliche Bakterien in die
Wurzelzone locken und bei Nachbarpflanzen Abwehrreaktionen auslösen. Mit ihren tief reichenden Wurzeln sind
„WiesenObst“-Bäume besser mit Mikronährstoffen versorgt als beispielsweise die flach wurzelnden Obstbäumchen in kommerziellen Obstanlagen. Obstbaumwiesen
sind ein funktionierendes Ökosystem, aber es bedarf der
Wartung um die Resilienz zu steigern: Jörg Geiger fördert
deshalb gezielt Mykhorrizen und Bodenbakterien.
Aroma und Geschmack von Früchten stehen in direktem Zusammenhang mit dem
Vorhandensein von sekundären Pflanzenstoffen wie Flavonoiden, Antioxidantien,
Vitaminen und Mineralien. Schon deshalb ist es für Jörg Geiger und die Manufaktur wichtig, dass das „WiesenObst“-Ökosystem optimal läuft. Aber inzwischen wissen wir, dass diese Stoffe auch existentiell wichtig für unsere Gesundheit sind. In
ihrem gerade erschienen Buch „What your food ate“, übersetzt etwa: „Womit sich
deine Nahrungsmittel ernährt haben“ weisen die Autoren David R. Montgomery
und Anne Biklé nach, dass wir die Mikronährstoffe, die wir für die Erneuerung
unserer Zellen, das Funktionieren unserer Organe und den Erhalt lebenswichtiger
Steuerungsvorgänge über unsere Nahrung aufnehmen müssen. Und inzwischen
sind wir unterversorgt, denn Obst, Gemüse, Getreide und Kartoffeln enthalten
heute deutlich geringere Mengen an Spurenelementen und sekundären Pflanzenstoffen als früher. Der Grund: über Jahrzehnte ging es Pflanzenzüchtern, Landwirten und Obstanbauern ausschließlich darum, die Erträge zu maximieren. Mit
chemischem Dünger lässt sich das erreichen – um den Preis, dass Pflanzen und
Bäume, die am Nitrat-Tropf der Agrarchemieindustrie hängen, nur noch schwächere, flachere Wurzelsysteme entwickeln und es nicht nötig haben, symbiotische
Beziehungen zu Mykhorrizen und Bodenlebewesen aufzubauen. In der Folge werden weniger phytochemische Stoffe gebildet – die Immunabwehr der Pflanze ist
geschwächt, sie ist nicht mehr gut gegen Schädlinge und Pflanzenkrankheiten geschützt. Die Agrarchemieindustrie bietet deshalb „Pflanzenschutzmittel“ an - eine
euphemistische Bezeichnung für Pestizide, Herbizide und Fungizide...
Forschung, Denken und Handeln in der Landwirtschaft kreisen weiter um das
Behandeln von Symptomen, obwohl der Fokus auch mit Blick auf unsere Gesundheit auf den Erhalt funktionierender gesunder Ökosysteme gerichtet sein sollte.
„Der Mensch ist, was er isst“ stellte der Philosoph Ludwig Feuerbach bereits
Mitte des 19. Jahrhunderts fest. Inzwischen ist wissenschaftlich bewiesen, dass
Feuerbach Recht hatte. Es ist Zeit, umzudenken und zu erfassen, dass wir trotz
allen Fortschritts und technischer Entwicklung Teil der Natur und des Ökosystems Erde sind und bleiben.