05.11.22

20220529_D850_6599

Der Blick in den Untergrund und neue Perspektiven

Wer an einem klaren Tag den steilen Hang oberhalb der Manufaktur Geiger in Schlat erklimmt, kann nicht nur den Blick auf die Kaiserberge genießen, sondern auch die gewaltigen Dimensionen der oft hundert Jahre alten Birnbaumriesen wirklich erfassen. Im Gegensatz zu modernen Tafelobstplantagen, in denen Bäume auf niedrigen Unterlagen dicht an dicht stehen und der Anbau ohne Einsatz von chemischem Dünger und Pestiziden nicht denkbar ist, scheint die Welt der „WiesenObst“-Bäume noch in Ordnung. Doch wer wie Jörg Geiger regelmäßig und zu jeder Jahreszeit die Obstwiesen begeht, der sieht, wenn Bäume Zeichen von Stress zeigen. Ursache sind nicht nur die heißeren, trockeneren Sommer, sondern auch die wärmeren Winter. Kälte im Winter bedeutet für die meisten Bäume, dass sie ihren Stoffwechsel reduzieren und sich in eine Ruhephase begeben. „Wenn sie die nicht bekommen, dann sind sie im Frühjahr grumpfig‘‘, erklärte mir vor ein paar Jahren der kalifornische Pfirsichanbauer Mas Masumoto. Seine „Sun Crest-Pfirsiche“ gelten weiterhin als Symbol für den Beginn der „Farm to Table“-Bewegung: Alice Waters, Starköchin und Gründerin von „Chez Panisse“ in Berkeley, setzte 1991 eine frische, reife, ganze Frucht auf die Dessertkarte, gefolgt vom Namen des Mannes, der sie am Morgen geerntet hatte: Mas Masumoto.

Auch Jörg Geiger widmet inzwischen dem unterirdischen Teil der Obstwiesen, den Wurzeln, Mykhorrizen und Bodenlebewesen, mindestens genauso viel Aufmerksamkeit wie dem sichtbaren Teil der Birnbaumriesen, den alten Sämlingsapfelsorten und der Vielfalt der Kräuter, Gräser und Sträucher, die dazwischen wachsen. Während manche Arten schon immer Teil der „WiesenObst“-Landschaft waren, hat er andere bewusst gesetzt – zur Bodenverbesserung und damit zur Stressprävention.

„Niemand ist eine Insel.“ Dieser Satz des britischen Dichters John Donne gilt auch für Pflanzen: Sie wachsen in Abhängigkeit von und im Austausch mit anderen Pflanzen, sie kommunizieren über Wurzeln und Mykhorrizennetzwerke, sie sind angewiesen auf das Fressen und Gefressenwerden, das Leben und Sterben von Insekten, Würmern und Mikroorganismen. Regenerative Landwirte und Obstanbauer sehen inzwischen ihre Aufgabe vorrangig nicht mehr darin, möglichst viel Obst, Gemüse oder Getreide zu produzieren. Ziel ist stattdessen das möglichst optimale Funktionieren des Ökosystems. Zu den Maßnahmen gehört es, ein gutes Umfeld für nützliche Insekten zu schaffen, Bodenlebewesen mit Nahrung zu versorgen – von Mist bis Mulche – und die unterirdische Welt mit ihren Wurmgängen, Pilznetzwerken und Krume möglichst wenig zu stören.

Bodenwissenschaftler haben in den letzten Jahrzehnten große Fortschritte gemacht - und dennoch wissen wir, dass bislang erst rund ein Prozent aller Bodenorganismen identifiziert wurde. Mindestens so wichtig wie Elektronenmikroskope und Laboranalysen sind die Beobachtungen und sensorischen Erfahrungen von Landwirten und Obstbauern: Wie fühlen sich die Blätter an? Wie steht es um die Bodenkrume? Feldforschung – im Sinne des Wortes – hat inzwischen zu einem wesentlich besseren Verständnis von Ökosystemen und den Kreisläufen von Wasser, Kohlenstoff und Stickstoff geführt.

Als eines der wichtigsten Messinstrumente hat sich der Refraktometer erwiesen. Damit lässt sich der Zuckergehalt – in der Maßeinheit Brix - einer Flüssigkeit bestimmen. Für Weinanbauer und Imker gehört ein Refraktometer von jeher zum Handwerkszeug. Inzwischen nutzen ihn aber auch regenerative Landwirte, um den Zuckergehalt im Blattsaft eines Obstbaums oder einer Gemüsepflanze zu messen. Pflanzen stellen mittels Photosynthese einfache und komplexe Zucker her, ein Teil davon dient als Baustein für die Produktion von Proteinen, Amino- und Fettsäuren, ein anderer Teil wird in die Wurzeln transportiert und dort als Währung im Tausch gegen Mineralien und Spurenelemente eingesetzt, die für den Stoffwechsel der Pflanze, z.B. die Herstellung von Fettsäuren nötig sind. Partner bei diesem Tauschhandel sind Mykhorrizen und Bodenorganismen, denn oft sind die von der Pflanze benötigten Spurenelemente im Boden zwar vorhanden, aber nicht in einer Form, die die Wurzeln aufnehmen können. Sie müssen erst von Bodenorganismen vorverdaut werden.

Pflanzen sind auf Bodenorganismen und Mykhorrizen angewiesen wie wir Menschen auf das Mikrobiom in unserem Darm. Jeder der schon einmal Antibiotika einnehmen musste, weiß was passiert, wenn ein solches Medikament nicht nur die krankheitserregenden Bakterien abtötet, sondern eben auch die für die Verdauung notwendigen, guten Bakterien.

Aber zurück zum Zucker. Ein höherer Brixgehalt im Blattsaft ist ein Hinweis darauf, dass der Stoffwechsel der Pflanze gut funktioniert: sie kann genug Zucker produzieren, um alle Mikronährstoffe einzutauschen und ausreichend Proteine, Lipide und sekundäre Pflanzenstoffe zu bilden. Zu letzteren gehören auch Flavonoide: Sie verleihen Früchten ihre Farbe, tragen zum Geschmack bei, sie können bitter sein und beißenden und saugenden Insekten den Appetit verderben, sie sind Teil des Kommunikationssystems – volatile Stoffe, die bei Krankheits- oder Schädlingsbefall freigesetzt werden, nützliche Bakterien in die Wurzelzone locken und bei Nachbarpflanzen Abwehrreaktionen auslösen. Mit ihren tief reichenden Wurzeln sind „WiesenObst“-Bäume besser mit Mikronährstoffen versorgt als beispielsweise die flach wurzelnden Obstbäumchen in kommerziellen Obstanlagen. Obstbaumwiesen sind ein funktionierendes Ökosystem, aber es bedarf der Wartung um die Resilienz zu steigern: Jörg Geiger fördert deshalb gezielt Mykhorrizen und Bodenbakterien.

Aroma und Geschmack von Früchten stehen in direktem Zusammenhang mit dem Vorhandensein von sekundären Pflanzenstoffen wie Flavonoiden, Antioxidantien, Vitaminen und Mineralien. Schon deshalb ist es für Jörg Geiger und die Manufaktur wichtig, dass das „WiesenObst“-Ökosystem optimal läuft. Aber inzwischen wissen wir, dass diese Stoffe auch existentiell wichtig für unsere Gesundheit sind. In ihrem gerade erschienen Buch „What your food ate“, übersetzt etwa: „Womit sich deine Nahrungsmittel ernährt haben“ weisen die Autoren David R. Montgomery und Anne Biklé nach, dass wir die Mikronährstoffe, die wir für die Erneuerung unserer Zellen, das Funktionieren unserer Organe und den Erhalt lebenswichtiger Steuerungsvorgänge über unsere Nahrung aufnehmen müssen. Und inzwischen sind wir unterversorgt, denn Obst, Gemüse, Getreide und Kartoffeln enthalten heute deutlich geringere Mengen an Spurenelementen und sekundären Pflanzenstoffen als früher. Der Grund: über Jahrzehnte ging es Pflanzenzüchtern, Landwirten und Obstanbauern ausschließlich darum, die Erträge zu maximieren. Mit chemischem Dünger lässt sich das erreichen – um den Preis, dass Pflanzen und Bäume, die am Nitrat-Tropf der Agrarchemieindustrie hängen, nur noch schwächere, flachere Wurzelsysteme entwickeln und es nicht nötig haben, symbiotische Beziehungen zu Mykhorrizen und Bodenlebewesen aufzubauen. In der Folge werden weniger phytochemische Stoffe gebildet – die Immunabwehr der Pflanze ist geschwächt, sie ist nicht mehr gut gegen Schädlinge und Pflanzenkrankheiten geschützt. Die Agrarchemieindustrie bietet deshalb „Pflanzenschutzmittel“ an - eine euphemistische Bezeichnung für Pestizide, Herbizide und Fungizide...

Forschung, Denken und Handeln in der Landwirtschaft kreisen weiter um das Behandeln von Symptomen, obwohl der Fokus auch mit Blick auf unsere Gesundheit auf den Erhalt funktionierender gesunder Ökosysteme gerichtet sein sollte.

„Der Mensch ist, was er isst“ stellte der Philosoph Ludwig Feuerbach bereits Mitte des 19. Jahrhunderts fest. Inzwischen ist wissenschaftlich bewiesen, dass Feuerbach Recht hatte. Es ist Zeit, umzudenken und zu erfassen, dass wir trotz allen Fortschritts und technischer Entwicklung Teil der Natur und des Ökosystems Erde sind und bleiben.